Moskva

Er blickte sich um. Die Moskauer Metro war voll wie immer. Sein Atem war flach, seine Hände schweißnass. Es roch nach verbranntem Stahl. Drei Stationen waren es noch bis zur Majakovskaja. Ich bin es, Dmitrij, ich bin nicht gekommen, weil ich Geld von dir will, ich wollte dir etwas überreichen…einen Brief von Mutter.

Die U-Bahn hielt an. Er stieg aus und mit ihm eine Horde von Menschen, die sich an ihm vorbeidrängelten. Draußen hatte es gerade zu regnen begonnen. Ein starker Sturm fegte über die Stadt hinweg. Die dicken Regentropfen prasselten mit lautem Getose zu Boden. Sein Mantel triefte schon nach wenigen Minuten, als er in die Bolshinskaja einbog. Du brauchst keine Fragen zu stellen, brauchst nicht zu tun, als täte dir etwas leid. Lies dir den Brief später durch. Es kam ihm nun vor, als würde sich die Straße endlos entlang ziehen. Seine Schritte wurden schwerer, sein Atem schneller. Das kalte Wasser drang durch seine Kleidung hindurch. Wie wird er reagieren…ich kann es nicht. An der Ecke erkannte er das Cafe, wo er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Blick schweifte ab und über sein Gesicht legte sich ein nachdenklicher, trübsamer Blick. Er hielt inne. Zehn Minuten lang bewegte er sich nicht vom Fleck. Es war, als wollte er umdrehen, doch er zögerte, als würde er in bleiernen Schuhen stehen. Abrupt riss er sich aus der Starre los. Weiter, geh schon, zum Umkehren ist es schon zu spät. Der Regen prasste nun noch stärker herab. An der nächsten Kreuzung machte er wieder halt. Eine Gruppe von zwanzig Leuten kam ihm brüllend entgegen. Einer streifte ihn, als er an ihm vorbeiging, und drückte ihm einen Zettel in die Hand. Ohne darauf zu blicken, steckte er ihn in seine Jackentasche.
Am Ende der Straße angekommen, durchschritt er eine Unterführung, hinter der sich die Moskva erstreckte. Urplötzlich hatte es zu regnen aufgehört. Eine riesige Menschenmasse versammelte sich gerade auf der Oktjabrskij Most. Doch seine Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Sein Blick schweifte von den Leuten ab, hinüber ans andere Ufer, wo die Wellen über das Geländer schwappten und die Mauern einer alten Fabrik benässten, die zu einem Wohnhaus umgebaut worden war. Nicht mehr weit, da vorne, Dmitrij, achte nicht auf die Leute, tu so, als wärst du einer von ihnen. Das Schreien der Menschen hatte sich zu einem undefinierbaren Meer aus Worten entwickelt, von denen keines an ihn herandrang. Er zwang sich durch sie hindurch, die Brücke voller Leute schien kein Ende zu nehmen, doch schon bald standen nur mehr vereinzelt welche umher, und er erreichte den Eingang des Fabrikgebäudes.
Wer sind Sie, fragte der Mann erstaunt, als er Dmitrij die Tür öffnete. Ich bin es. Dmitrij, dein Sohn.. .

Doch die Worte wollten nicht über seine Lippen. Ohne zu antworten, zog er ein Messer aus seiner Jackentasche und stieß es in dessen Brust, in seinen Bauch, zwei, drei Mal, er zählte nicht mehr. Der Körper fiel zu Boden. Dmitrij rannte aus der Fabrik, seine Gedanken waren leer. Wie oft hatte er sich die Szene vorgestellt. In so wenigen Sekunden war sie vorbei. Ein Gefühl von Wehmut machte sich in ihm breit. Er erreichte wieder die Brücke, die nun keinen einzigen Menschen mehr außer ihm trug. Das blutdurchtränkte Messer hatte er die ganze Zeit über in seiner Hand gehalten. Seine Hand zitterte, als er es aus seiner Jacke zog. Die reißende Moskva erfasste das Messer und mit ihm die ungetrübte Vergangenheit. In der Abenddämmerung wirkte es, als ob das Blut den Fluss rot gefärbt hätte. Erschöpft ließ sich Dmitrij über das Geländer der Brücke hängen. Er konnte den Kreml erkennen. Aus der Weite hörte er plötzlich Schüsse. Da kam es ihm in den Sinn. Er nahm den Zettel heraus, den ihm einer zugesteckt hatte. Das Blut hatte die Schrift fast unleserlich gemacht. Nur ein Wort konnte Dmitrij erkennen: Revolution.

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